Blog Post

Mein Manifest

Johanna Baer • 29. Januar 2023

Wo das Glück der Erde liegt


Gerade sitze ich vor einem wunderschönen Garten mit riesigen Lavendel- und Rosmarinbüschen. Im Hintergrund läuft leise klassische Musik, Tobi macht eine Meditationsübung – es ist zufällig genau das Musikstück, das er aus seiner Ausbildung kennt. Wir haben gerade leckere Sandwiches gegessen, in einer Küche zubereitet, die nicht unsere ist – am anderen Ende der Welt. Nehmt euch einfach, was ihr braucht, hat uns das nette Paar gesagt, weil beide mittags unterwegs sind.


Erst schaue ich Tobi zu, dann fällt mein Blick auf meine Beine. Heute habe ich mal eine kurze Hose an – überall sonst war es in Australien zu heiß (Sonnenbrand) oder die Arbeiten in hohem Gras etc. Ich sehe bei meinen Beinen vor allem eines: Dreck auf der Haut. Und ich muss lächeln. Ich fühle mich glücklich und ausgeglichen. Atmosphärisch mag das auch an der ruhigen, melodischen Streichermusik liegen. Aber vor allem bin ich innerlich tief zufrieden, weil ich mir die Hände und die Beine schmutzig gemacht habe. An meinem rechten Arm sehe ich ein paar Pusteln – Tomatenpflanzen sind nicht so gut für die Haut, dazu eine kleine Wunde, die von den Blaubeerbüschen letzte Woche kommt. Meine Fingernägel sind schwarz, meine Finger blau (Brombeeren) und erdig. Trotz "Vor dem Essen Hände waschen" – das früher nie so richtig Sinn gemacht hat. Meine Computertastatur war sehr sauber und oft desinfiziert.


Eine liebe ehemalige Kollegin und Freundin hat mich gebeten, einen Artikel über die Unterschiede und Auswirkungen von körperlichem und digitalem Arbeiten zu schreiben. Hier ist er nun.


Spüren im Freien


Man hört manchmal, dass Menschen versuchen, sich selbst zu spüren. Fand ich immer etwas esoterisch bzw. spirituell angehaucht. Und ich fand es auch immer absurd, dass es in unserer westlichen Welt klimatisierte Fitnessstudios gibt. Ich halte sie für ein extrem aussagekräftiges Bild unserer Gesellschaft, die sich im Alltag nicht spüren kann. Man arbeitet im Büro an einer hochtechnisierten Maschine, bekommt davon Rückenschmerzen und versucht diese in seiner Freizeit in einem geschlossenen Raum loszuwerden, wiederum an komplex konstruierten Maschinen. 


Jeder Bauer, jede Bäuerin dieser Welt, der/die nicht völlig hochtechnisiert arbeitet, ist täglich weit davon entfernt, sich auf ein Laufband zu stellen oder mit Hanteln zu pumpen. Denn das passiert schon bei der Arbeit! Man läuft und läuft und läuft, vom Acker zur Scheune, in die Küche, in das Lager, zurück zum Lager… und dann hebt man dort Schüsseln, Eimer, Unkraut, pflückt Beeren, jätet Unkraut, wäscht ab, mäht zwischen Obstbäumen etc. Man spürt seinen Körper, man spürt aber auch die Natur (dazu habe ich mal in einem Blog zu unserer Alm geschrieben, s. ). Wenn man einen Ausgleich braucht, dann ist es vielleicht eher das Buch am Abend oder einen Film – oder man freut sich, wenn Freunde oder Familie zu Besuch kommen, denn Gesellschaft bzw. Kontakt zu Kollegen hat man tagsüber manchmal nicht. Meetings? Zoom-Calls? Fehlanzeige.


Rhythmus


Als ich Tobi heute im Auto auf dem Weg zum berühmtesten Tasmanischen Nationalpark gefragt habe, wo für ihn der größte Unterschied ist zu seiner alten Arbeit, sagte er: Wir haben einen anderen Rhythmus und die Arbeit fühlt sich mehr nach Leben an, weniger als Arbeit.

Man könnte das so knapp stehen lassen, aber dafür schreiben wir ja keinen Blog :-). Also: wir stehen um sieben oder acht Uhr auf. Eine Uhrzeit, zu der man früher von mir ein „Lass mich in Ruhe, ich schlafe noch!“ oder ein „Mach das Licht wieder aus!“ angegrummelt bekommen hat. Heute war unser freier Tag und um kurz vor acht war ich wach und ausgeruht. Die Sonne hat zum Fenster hereingeschienen und ich hatte Lust, die Tomaten vor unserem kleinen Cottage auszugeizen. Ich fasse zusammen: Freier Tag, morgens um acht, Lust auf „Arbeit“. 

Der Kontrast dazu war: sich morgens um halb neun aus dem Bett kämpfen, ins Bad schlurfen, in die Küche schlurfen, auf dem Weg den Computer anmachen, um neun Uhr (verratet nicht, liebe Kolleginnen, dass es meistens erst halb zehn war!) sich in eine Decke wickeln – auch im Sommer, weil mir immer kalt war, da mein Kreislauf nicht in Schwung gekommen ist – und beginnen, die Mails zu checken. Bis man abends nach einem Spaziergang durch den Münchner Vorort mit Reihenhäusern und dem immer gleichen Waldstück, um wenigstens einmal nach draußen zu kommen, sich aufs Sofa hat fallen lassen für den Fernseher. Leben hat dann am Wochenende noch stattgefunden.

So sehr ich meine Arbeit inhaltlich geliebt habe und für so sinnvoll und erfüllend ich sie auch gehalten habe. Die Art des Arbeitens war es nicht; und ich glaube, es war auch alles andere als physisch und psychisch gesund. Ich war intellektuell gefordert, organisatorisch, sozial und teils auch kreativ. Alles, von dem ich dachte, dass ich es benötige, um glücklich zu sein und meiner Verantwortung für meine Talente nachzukommen.

Seltsamerweise habe ich mich aber immer müde, oft körperlich und in meiner Konzentration ausgelaugt und oft gestresst gefühlt. Dabei habe ich „nur“ 32 Wochenstunden gearbeitet, dies aber mit allem, was ich hatte. Ich habe es quasi in den Computer gequetscht; in Tabellen, in Zahlen, selten in Texte, in die Moderation von Meetings, in unzählige Emails. Über meine Augen, meine Stimme und meine Finger in den digitalen Raum geschickt – in der Hoffnung, dass etwas Sinnvolles und Erfolgreiches dabei irgendwoanders herauskommt. Natürlich haben wir Erfolge gefeiert. Wobei „natürlich“ auf diesem schwierigen Feld des Kampfs gegen chemisch-synthetisch Pestizide nicht selbstverständlich ist. Natürlich gab es geniale Mitgliederversammlungen und Pressekonferenzen, in denen ich richtige Freude und auch Selbstwirksamkeit gespürt habe.


Leben


Aber ehrlich gesagt, bringt einem im Alltag nur sehr selten eine Mail so viel Freude wie ein voll gepflückter Eimer voller Blaubeeren oder das Wiehern eines Pferdes, das auf einen zugetrabt kommt. Es ist kein Zuckerschlecken in der Landwirtschaft zu arbeiten und es ist immer wieder auch körperlich unangenehm. Aber der täglich sichtbare Erfolg, der Kontakt mit Tieren, die schlichtweg nicht kompliziert sind, und die körperliche, um nicht zu sagen sportliche Arbeit, führt dazu, dass ich physisch und psychisch gesünder, ausgeruhter, stärker und zufriedener bin. Wir leben hier mehr jeden Tag, es ist weniger das Gefühl von Arbeit, mehr das von einem vollen Leben. Ich bin der festen Überzeugung, dass der Kontakt mit der Natur, alleine der permanente Aufenthalt IN der Natur, DRAUSSEN, elementar zu dieser Wahrnehmung von weniger Stress, einem Ausgefülltsein in allen Sinnen und die Unmittelbarkeit der Tätigkeit zu einem erfüllterem Gefühl von Leben beitragen.


Stress


Wer von euch hat schon einmal eine Kuh angeschoben? Oder an einer Tomatenpflanze gezogen, damit sie wächst?

Im Gegensatz dazu: Wer hat schon mal versucht drei verschiedene Emails zu schicken, um jemanden dazu zu bringen, etwas rechtzeitig abzugeben? Oder eine EU-Verordnung zu ändern? 


Letzteres braucht Jahre, wenn nicht Jahrzehnte – und tausende Menschen. Im Vergleich dazu wächst eine Tomatenpflanze größtenteils von selbst, jedes Jahr neu für eine Saison. Vielleicht ist das das Schönste an der Landwirtschaft, nämlich dass ein Teil der Arbeit von der Natur selbst erledigt wird. Diesen Teil kann man unterstützen und ein wenig steuern. Aber am Ende sind wir darauf angewiesen, dass Pflanzen und Tiere von selbst leben. Die Kuh gibt nicht mehr Milch, nur weil ich sie schneller in den Stall bugsiere oder melke. Und sie gibt auch nur zweimal am Tag Milch – die ständige Verfügbarkeit in der modernen Arbeitswelt (ich arbeite, wann ich will!) funktioniert auf einem Hof schlicht weg nicht. Man muss das Heu machen, wenn das Wetter es zulässt. Man arbeitet im Gewächshaus, wenn das Wetter es zulässt. Und man melkt die Kuh, wenn die Kuh es zulässt ;-). Diese starke Determiniertheit von Abläufen – Jahreszeiten, Wachstumszeiträume, Reifung – sind sehr hilfreich und auf eine bestimmte Art stressfrei. Man muss sich nicht jeden Tag fragen, welche Arbeit zu tun ist, denn man sieht sie. Man muss sich nicht jeden Tag motivieren, denn die Arbeit ist durch ihre einfache Notwendigkeit festgelegt. Man muss sich nicht jeden Tag fragen, ob man etwas Sinnvolles tut; denn essen müssen wir alle jeden Tag und die Nahrungsmittel zu produzieren ist eine Voraussetzung menschlichen Lebens. Und die Natur ist geduldig. Tomaten hängen auch ein paar Tage länger am Strauch, man muss sie nicht innerhalb von fünf Minuten ernten, sobald sie fertig sind. Ganz anders bei einem Zoom-Call mit dem Landwirtschaftsminister, zu dem man besser nicht fünf Minuten zu spät kommt. Die Natur verzeiht, wenn man dem Baum ein paar Blätter zu viel abschneidet (meistens), sie fordert einen zwar heraus (Unkraut), aber sie verlangt im Grunde genommen keine schnellen, komplexen Entscheidungen direkt von uns.


Der Stress, der durch die hohen Anforderungen in unserer modernen Arbeitswelt entstanden ist, möglichst alles nebeneinander und sofort zu erledigen, kostet viel Kraft im Alltag. Denn es ist digital so viel möglich, wenn man schnell tippen kann. Ich habe immer gesagt, mein Zehnfinger-Schreibkurs war das Wichtigste was ich in der Schule gelernt habe. Aber vielleicht auch der größte Fluch? Geschwindigkeit verursacht größten Stress – und in der Landwirtschaft sind wir durch die natürlichen Kreisläufe beschränkt in der Schnelligkeit, in der Dinge überhaupt zu einem Erfolg gebracht werden können. Ehrlich gesagt, fühle ich mich mit dieser Limitierung sehr wohl, sie passt mehr zu meinem Wesen als Mensch, der ebenfalls dieser natürlichen Umgebung entstammt und sich darin angemessen schnell bewegt.


Generalisierung


Insgesamt vermute ich, dass es sehr vielen Menschen so ähnlich geht. Manch einer mag zufrieden sein mit dem Bürojob und dem Fitnessstudio oder dem täglichen Joggen durch den Stadtpark. Wunderbar. Aber fast alle unserer Freunde haben in den letzten Wochen und Monaten zu uns gesagt: Ihr macht es richtig… ich würde auch am liebsten… nutzt die Zeit, das hätte ich auch machen sollen… macht weiter so, das ist ja so toll… wie schön, da wäre ich auch gerne… ich würde jetzt am liebsten auch Kühe streicheln… Ich habe mir oft überlegt, wie man für die gesamte Gesellschaft einen Ausgleich schaffen könnte. Und eigentlich verstehe ich nicht, warum wir als Stadt- und Land- bzw. Büro- und Bauernmenschen nicht mehr zusammenarbeiten. Jeder Bauer wäre um Hilfe dankbar – viele Stadtmenschen brauchen einen physischen Ausgleich. Warum kommen nicht jeden Nachmittag oder am Samstag die Stadtmenschen auf die Höfe und helfen dort mit? Sie würden sich den Mitgliedsbeitrag für das Fitnessstudie sparen, pures Glück erfahren bei der erfolgreichen Ernte, sie würden Nahrungsmittel mehr wertschätzen und der Bauer könnte vielleicht den Sonntag auch mal frei haben, weil am Samstag so viel getan wurde. Es wäre eigentlich nicht schwer, oder? Vielleicht gibt es so eine Initiative schon oder vielleicht macht der ein oder andere bereits so etwas. Wenn nicht, dann suche ich hiermit Interessenten, die mit mir so etwas aufbauen wollen! Für mehr Glück, Gesundheit und bessere Nahrungsmittel für alle.


Von Glück und Notwendigkeit 


Meine von Zeugnissen bestätigten Talente mögen mich vielleicht für ein anderes Arbeiten prädestinieren. Ich komme aber immer mehr zu der Erkenntnis, dass meine oberste Priorität im Leben nicht die Leistung und die Ausnutzung aller Talente ist, sondern das Erfahren von Glücklichsein mit einem Leben, in dem man etwas Gutes für diese Welt bewirkt. Ich hoffe, dass mein Gefühl und meine Empathie für unsere Welt meine eigentlich größten Talente sind – in engen Kontakt mit der Natur zu Leben und zu arbeiten ist zugleich aber auch die Notwendigkeit für mein eigenes Glück.


Ps: Für eine kleine witzige Anekdote nach diesen grundlegenden Zeilen. Ich trinke wieder Bier. Fast zehn Jahre habe ich kaum ein Bier angerührt, ich möchte es nicht mehr. Nach einem schweißtreibenden Tag, an dem wir hunderte Bäume im heißen Nordaustralien abgehackt haben, sind wir in den Schatten des großen Baumes am Hof gefallen und haben eiskalte Bierdosen zugeworfen bekommen. War das gut!!!


Pps: Meine schlaflosen Nächte sind verschwunden, ich bin auf unserer Alm in kürzester Zeit weggepennt. Und auch auf den Farmen schläft man lange und ruhig, um den Körper erholen zu lassen.


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